Das Märchen vom Personalmangel in der Pflege

Nach den offiziellen Verlautbarungen von Krankenhausleitungen und Gesundheitspolitikern liegen viele Missstände der Medizin, unter anderem die fehlende Zeit, meistens daran, dass es nicht genügend Personal gibt.

14. Das Märchen vom Personalmangel (1)

Vernünftiges Gehalt, erträgliche Arbeitsbedingungen und Wertschätzung hängen zusammen, und wenn alles drei stimmt, wird man in jedem Beruf genügend Arbeitskräfte finden. Wenn nichts davon mehr stimmt, wandern die ab, die es sich leisten können, – Pflegekräfte, Ärzte und durchaus auch Chefärzte. Verantwortungsvolle Mitarbeiter sind ja nicht notwendiger Weise blöde.

Foto: Manfred Koschabek

Seit einiger Zeit werden von Krankenhaus,- Kosten- und politischen Verantwortungs-Trägern neuzeitliche Märchen erzählt, wie z.B. das über den plötzlich über unsere Zivilisation hereingebrochenen Pflegekräftemangel.

In Hamburg fand am 17. September 2016 ein „Internationaler Tag der Patientensicherheit“ statt. Veranstalter waren der ASKLEPIOS-Konzern und ein „Wissenschaftliches Institut der Techniker Krankenkasse für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen“.Eine spannende Kombination! Denn warum tut sich eine Krankenkasse, deren Interesse es doch eigentlich sein müsste, die von ihren Mitgliedern bezahlten Beiträge optimal im Interesse eben dieser Mitglieder auszugeben, mit einem Konzern zusammen, der aus dem Gesundheitswesen im Jahr 2015 einen Nettogewinn von satten 176,8 Mio Euro (Umsatzrendite 5,7) zog. (Kann man googeln! )

Auf diesem Kongress erwähnte die Gesundheitssenatorin der freien Hansestadt, eine Studie, die zeigt, dass 30 Prozent der aufgetretenen Fehler – anscheinend treten im Gesundheitswesen Fehler auf! – durch eine Optimierung der Klinikorganisation, insbesondere dünnen Personaldecke der Pflege vermeidbar gewesen wären.

Der anwesende ASKLEPIOS-Chef, ein Herr Wolfram meinte, Personalvorgaben seine nicht zielführend (!) denn die gewünschten Fachkräfte seien auf dem Markt nicht zu bekommen. Um diese Äußerung richtig zu verstehen, muss man sich klar machen, dass der Konzern so viel Geld im Krankenhausbereich eigentlich nur verdienen kann, indem er frei werdende oder gewordene Stellen, von Ärzten und von Pflegepersonal zeitweise oder ganz nicht besetzt. Und das Geld, das die Krankenkasse für diese Stellen bezahlt, in die Konzern-Tasche steckt.

Er sagte nicht, dass die Arbeitsbelastung wegen der nicht besetzten Stellen für die übrig gebliebenen Mitarbeiter zu hoch sei, das Wort „Belastung“ trifft da wohl ziemlich genau zu. Er sagte auch nicht, dass es genau deswegen die Fachkräfte auf dem Markt nicht gibt: Denn zu diesen Arbeitsbedingungen möchte niemand arbeiten. Sogar der Präsident der Bundesärztekammer hat Ärzte davor gewarnt, bei ASKLEPIOS zu arbeiten. Der steht nun nicht gerade im Verdacht, marxistisch-leninistischem Gedankengut anzuhängen.

Das Rezept des mysteriösen Schwunds an Pflegekräften geht konkret so: zuerst reduziert man Stellen. Warum? Weil man Geld einsparen kann, wenn man frei werdende Stellen nicht wieder oder nicht sofort besetzt. Da werden beträchtliche Summen frei. Der Preis dafür ist hoch: die Zustände z.B. auf Intensivstationen aber auch im ganz normalen Krankenhausbetrieb werden wegen des selbst erzeugten Personalmangels so unerträglich, dass man auch dann keine guten Schwestern und Pfleger mehr bekommt, wenn man sie – volle Kraft zurück! – zur Erhaltung des Betriebes dringend sucht.

Tatsächlich soll das Märchen vom Pflegekräftemangel davon ablenken, dass die Verantwortlichen in Krankenhauskonzernen, Versicherungen und Politik diesen Mangel ja eigentlich gar nicht ändern wollen! Das haben Sie schon richtig gelesen: in ihrer Einschätzung über die benötigte Personalstärke sind die Führungskräfte der großen Klinika meist völlig gespalten. Die medizinischen Fachleute setzen den Personalbedarf höher an, als die Finanzspezialisten. Letztere setzen sich durch, denn sie sind nur am Geld interessiert. Für sie gilt: mehr Personal kostet mehr Geld. Das eingesparte Geld kann man aus dem System ziehen und anderswo „arbeiten“ lassen. Zustände und Befindlichkeit des noch nicht abgewanderten Personals sind entsprechend.

15. Warum will eine/r überhaupt pflegen?

Ganz klar: Weil pflegen stolz macht. Aha?

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Elisabeth Scharfenberg hatte unter 4500 Schwestern und Pflegern eine Umfrage gemacht, bei der herauskam, dass 85% stolz auf ihre Arbeit sind (2). Sie trügen hohe Verantwortung und würden gebraucht. Warum gibt es dann nicht mehr Menschen, die pflegen wollen? Den Mangel versuchen ASKLEPIOS – Hamburg und auch das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein gerade mit aufwendigen Werbeaktionen zu bekämpfen.

In der eben erwähnten Umfrage findet sich eine Antwort: Zwei Drittel der Schwestern und Pfleger sind mit ihrer Arbeitssituation unzufrieden, zu hoher Zeitdruck, zu wenig Personal. Man kommt nicht zu dem, worum es einem geht.

Worum geht es einem denn? Woher kommt die Motivation für pflegerische Tätigkeiten?

Ein Vorschlag: „Die eigentliche Leistung, die wir schätzen sollten, wenn es um unsere Karriere geht, ist das Erschaffen eines Arbeitslebens, das unsere ureigenen inneren Werte reflektiert.“ (3)

Wenn Sie einmal als Krankenschwester oder –pfleger arbeiten wollten, war es wohl eher nicht Ihr „ureigener innerer Wert“, unterbezahlt auf miserabel besetzten Stationen in den Burnout zu trudeln und sich jeden Tag zu fragen, ob Sie diese Tätigkeit noch mit Ihrem Berufsethos verbinden können.

Was hat Sie denn getrieben, diesen Beruf zu ergreifen? Vielleicht Ihre besondere Fähigkeit, mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu kommunizieren? Ihre Gabe, Menschen in Lebenslagen zu unterstützen, in denen sie hilflos sind, weil sie aus einer lebensbedrohlichen Krankheit durch medizinische Maßnahmen gerettet wurden, die eine Intensivbehandlung nötig machen? Ihre Einschätzung, dass es eine gute Tätigkeit ist, Menschen in dieser verwundbaren Lage beizustehen und dass gerade Sie so etwas gut können? Vielleicht haben Sie entdeckt, dass Sie im Umgang mit kranken Menschen erfinderisch sind, sich auf ihre besondere Situation einstellen und ihnen dadurch das Leben wesentlich erleichtern können.

Copyright: Inger Kristina Wegener

Vielleicht können gerade Sie liebevoll und entspannt auch mit verwirrten Alten umgehen, weil Ihnen bewusst ist, dass die eben nicht immer dement waren, sondern in ihrem aktiven Leben eindrucksvolle und natürlich einzigartige Persönlichkeiten. Möglicherweise hatten Sie den – durchaus zutreffenden – Eindruck, dass Sie damit etwas Gutes, Richtiges tun. Das wäre es, Ihr ganz persönliches, einzigartiges, unverwechselbares Selbst!

Lassen Sie es wachsen, denn davon haben alle etwas: Sie, die kranken Menschen, mit denen Sie sich befassen, und unsere ganze Gesellschaft, weil diese werterfüllte Art, Ihren Beruf zu gestalten aller Wahrscheinlichkeit nach mit weniger Krankheitstagen, geringerem Schlafmittelverbrauch, geringerem Alkoholmissbrauch und last not least mit weniger Frühberentungen einhergehen wird.

Durch Sie, durch Ihren ganz persönlichen Stil, bekommt unsere Gesellschaft etwas zurück, – gleichsam als Belohnung, dass dem Einzelnen Freiraum und Möglichkeiten zur Entfaltung gegeben wurden. (4)

Wie geht es Ihnen bei der Lektüre dieser Zeilen? Kommen sie Ihnen vollkommen abgehoben idealistisch vor? Oder ironisch? Vielleicht arbeiten Sie selbst im Pflegebereich und haben immer wieder erlebt, wie wenig wertschätzend von Kostenträgern und Heimbetreibern mit Ihrem Berufsstand umgegangen wird. (5)

Foto: Manfred Koschabek

Mein Text ist ernst gemeint. Ich bin überzeugt, dass Menschen mit dieser Einstellung auch heute ihre Erfüllung in der Pflege finden können und dass diese Gesellschaft sie dringend braucht. Und eben diese Gesellschaft muss begreifen, dass sie solche Menschen auch angemessen bezahlen muss. Gute Pflege kann dort gemacht werden, wo für genügend gut bezahltes Personal gesorgt wird.

Wir stehen am Scheideweg: Entweder besinnen wir uns auf den Wert jeder einzelnen Person, der Pflegenden und der Gepflegten, oder Pflege wird für alle Beteiligten das Grauen schlechthin. Ein Grauen, an dem einige Wenige sehr gut verdienen. (6)

Hier gelangen Sie zur Übersicht aller bisher veröffentlichten Kapitel.

Quellen:

  1. Siehe auch „Die Kopfgeldjäger der Charité“ von Astrid Viciano, SZ Nr. 99, Sa/So/Mo 29./30. April/1. Mai, 2017 S 37.
  2. elisabeth-scharfenberg.de: Was beschäftigt Pflegekräfte? 
  3. Daniel Schreiber, Nüchtern, Suhrkamp Taschenbuch 4671, 2016, ISBN 978-3-518-46671-1
  4. Das ist ein Gedanke den Angus Deaton am Schluss seines Buches diskutiert: Angus Deaton, The Great Escape, Princeton University Press, New Jersey, 2013, ISBN 978-0-691-16562-2
  5. Armin Rieger: Der Pflegeaufstand. Ludwig Verlag München, 2017, ISBN: 978-3-453-28085-4
  6. Armin Rieger, ebd.